14. Juni 2019 Bandeira - Santiago

 

Ach, manchmal wünsche ich mir wirklich einen Camino, an dem ich nachts nicht frieren muss!

 

Wir haben den 14. Juni - Juni, nicht März oder April, Juni! - und ich hatte heute Nacht alles am Körper, was mein Rucksack so hergab. Juni! Spanien! Hallo!

 

Aber ich will nicht meckern und denke gerade an unsere Oma. Die sagte immer: "Tritt dem Deibel (sie war kein Mensch, der harte Worte über die Lippen brachte) auf den Fuß, du weißt nie, wofür es gut ist." -  Unsere Oma war eine der klügsten und herzlichsten Menschen, die ich je habe kennenlernen dürfen ... man durfte seine Nase nur nicht zu tief in ihre Kochtöpfe stecken, dann gab es nämlich eins mit dem Holzlöffel!

 

 

So war auch das Frieren für etwas gut. Ich bibber mich nämlich schon früh aus meinem Schlafsack, breche entsprechend zeitig auf und ...

 

Ach, Kinders, es ist so schön, wenn man morgens unterwegs ist und zusehen kann, wie dieses wunderschöne Galicien, das ich ja eh schon liebe, noch ganz verschlafen vor sich hinträumt. Dann kommen die ersten Sonnenstrahlen, kitzeln es an der Nasenspitze und ziehen ihm langsam die Nebeldecke weg. Die Erde fängt behäbig an sich zu räkeln. Es scheint zu flüstern: "Nur noch fünf Minuten, bitte."

 

Ich weiß, es klingt total kitschig, aber genau so ist dieser Morgen - kitschig und schön.

 

 

Dann entdecke ich neben mir meinen Schatten und denke: Schatten sind schon lustig:

 

Es gibt einen Schatten der Zuversicht.  "Wende dein Gesicht der Sonne zu und du lässt die Schatten hinter dir." - Schau nicht nach hinten, überleg nicht, was warum wo falsch gelaufen ist, lass es hinter dir, lerne aus unschönen Situationen, nimm sie aber nicht mit, versuche, es in Zukunft besser zu machen, hab Vertrauen, was auch immer geschehen ist, alles hat eine Chance wieder gut zu werden.

 

Es gibt einen nicht so schönen Schatten, der direkt vor einem liegt. Man kann noch so sehr versuchen, ihn irgendwie loszuwerden, aber der geht einfach nicht weg. Was man auch tut, er ist immer einen Schritt voraus.

 

Es gibt einen Schatten, mit dem man immer ein bisschen neben sich selbst steht. Manchmal ist das gar nicht schlecht, weil man von neben sich eine andere Perspektive hat ... und (manchmal auch leider) auf sich selbst gucken kann. Manchmal ist das aber auch nicht wirklich gut, weil man eben nicht in sich ist, nicht  eins mit sich selbst.

 

 

Uuuh, ich habe gerade schwere Gedanken. Aber irgendwie passt das: Mein Camino geht langsam dem Ende zu. Er führte mich über wunderschöne Wege und durch richtig schöne Gegenden, aber er war auch ziemlich chaotisch und sehr, sehr einsam. Ich glaube, es war mein einsamster Weg ever! Die Amerikanerin habe ich ja schon lange verloren, das spanische Pärchen nur zwei Tage lang getroffen. Die einzigen, die mir bis vorgestern erhalten geblieben waren, waren die drei Spanier ... die aber leider kein Englisch sprachen. Die waren nett und wir haben uns immer gefreut, wenn wir uns trafen, aber die Kommunikation war doch ein bisschen schwierig und die Drei auch einfach sehr ausreichend mit sich selbst beschäftig.

 

Ich freue mich unglaublich auf morgen, wenn Thomas und die anderen kommen. Ich glaube, ich werde denen stundenlang und gnadenlos die Ohren volllabern!

Obwohl sich rundum sonst der Nebel verzogen hat, erahne ich, dass da jetzt Ponte Ulla kommen muss, nur daran, dass ich stramm bergab gehe. Ich habe so viel vom schönen Ausblick gelesen bis zum Pico Sacro ...Ich bin mir sicher, den gibt es auch ... wenn da gerade keine Suppenküche vor sich hinwabert.

 

Erst an der Walfahrtskirche Virxe de Gundián lichten sich die Schwaden. Außer einem älteren Herrn, der ein bisschen herumwuselt und wohl für Sauberkeit und Ordnung zuständig ist, habe ich dieses Fleckchen Erde für mich ganz alleine und genieße es, auch wenn das Gotteshäuschen -  na klar! - verschlossen ist.

 

Gleich nach der alten Brücke gibt es zwei Bars, aber bevor ich dort einkehre und mir den nötigen zweiten Stempel des Tages geben lasse, möchte ich doch erst sehen, wo das per Schild angekündigte Pilgerbüro ist. Der Stempel von dort ist bestimmt schöner. Ich laufe die Straße  rauf, runter und wieder rauf, kann es aber nicht finden und frage zwei ältere Damen, donde es wohl sein mag. Daraufhin kommt eine Situation, die ich auf und für die ich meine Caminos einfach liebe: Die Dame holt sich einen Stock und wackelt mit mir im Schlepptau einmal quer über die Straße zu einem ... Ja, wie soll ich das nennen? Es ist kein Laden, noch nicht einmal ein Kiosk, eher so etwas wie ein Kaphäuschen, in dem ein alter Holztisch steht, auf dem zwei Brote liegen. Von irgendwo ganz hinten kruschelt die Senora einen Stempel hervor, kommt wieder zu mir geschlurft, lässt sich mein Credencial geben und merkt, dass Stempel nur mit Stempelkissen funktionieren. Das ist - na klar! - da, wo der Stempel auch war.

 

Diese ganze Aktion dauert mehrere Minuten. Natürlich hätte ich einer der Bars schneller einen Stempel bekommen, aber wisst ihr was: Er ist nicht eben schön, trägt nur einen Namenszug, aber er ist einer meiner liebsten dieses Weges.

Als ich in Outeiro ankomme, ist es noch nicht einmal Mittag. An der Santiago-Kirche setze ich meinen Rucksack ab, lege mich auf die Mauer und überlege, was ich jetzt wohl tun soll. Besonders heimelig ist es hier nicht. Irgendwo ist wohl eine größere Baustelle, jedenfalls fahren im Minutentakt mit einem riesigen Getöse schwere LKWs vorbei. Und Outeiro ist ein klitzekleines Dorf mit nix rundherum. Freilich könnte ich bleiben und morgen frisch nach Santiago weiterlaufen, aber ich fürchte, bis Bettzeit ist, kriege ich hier Blasen am Hintern, und wenn ich heute in Santiago ankomme, habe ich morgen einen ganzen Ruhetag, bevor die anderen kommen und wir übermorgen nach Finisterre weitergehen. Das ist doch auch eine schöne Aussicht!

Gedacht, Rucksack geschultert und weitergelaufen. Kurz juckt es mir in den Füßen auf den Pico Sacro hinaufzusteigen, aber mit der Aussicht auf de verbleibende Strecke ... Ach ja, ich gebe es ja zu, Faulheit spielt da gerade auch eine große Rolle. Hinterher könnte ich mir in den Hintern beißen, dass ich es nicht getan habe. Nun denn, es ist nicht der einzige Fehler, den ich heute mache.

 

Was soll ich noch über den restlichen Weg sagen? Erst stapfe ich eine ganze Weile bei Maschinenlärm durch Pineinhaine, die gerade gepflanzt werden, dann führt mich der Weg in die immer dichter beieinanderliegenden Vororte von Santiago. Ich werde ungeduldig und obwohl ich einen Abzweig übersehe und schier schon vor der Tür der letzten Herberge von Santiago stehe - mit Bar! - kehre ich dort nicht ein. DAS ist mein zweiter großer Fehler des Tages: Hätte ich hier noch einmal übernachtet und wäre morgen ganz in Ruhe die letzten Kilometer gegangen, hätte ich mir viel Schmerz erspart!

Ehrlich gesagt mutet mir die Brücke, unter der einen Tag vor dem Jakobustag 2013 ein Schnellzug entgleist ist, ziemlich komisch an. Erst denke ich noch, dass die Pilger, die hier ihren Kram entsorgt haben, den auch gut bis zum nächsten Mülleimer hätten schleppen können, dann erst wird mir bewusst, wo ich bin, und kriege einen dicken Kloß im Hals.

 

So, und nun muss ich mal eben etwas loswerden: Dieser Camino gehört nicht unbedingt zu meinen liebsten. Landschaftlich ist er total schön, gar keine Frage, aber ich war doch sehr einsam. Abgesehen von den ersten Tagen mit meiner amerikanischen Mitpilgerin waren nur die drei Spanier immer irgendwie mehr oder weniger in meiner Nähe, mit denen ich mich aber auch kaum unterhalten konnte. Ich liebe es alleine zu laufen, aber ich liebe es einfach auch, tagsüber an einer Bar oder abends in einer Herberge anzukommen und jemanden zu treffen, der mich fragt, "wie war dein Tag?", mit dem ich mich austauschen kann, dem ich auch mal die Ohren volljammern kann, der ... einfach da ist. Wo ich war, war immer niemand und das war nicht schön! Auf keinem anderen Camino habe ich so oft an Abbruch gedacht, auf keinem anderen Camino habe ich so oft gedacht, dass ich keine Lust mehr habe, auf keinem anderen Camino habe ich mich so oft gefragt, ob ich eigentlich noch alle Latten am Rost habe, so dämlich in der spanischen Wildnis herumzulatschen.

 

 

Dieser Camino nähert sich Santiago von hinter dem Cidade da Cultura her, das von der Stadt aus gesehen oben auf einem der umliegenden Hügel liegt und so ein bisschen aussieht wie eine schwangere Auster. Es dauert lange, bis man einen ersten Blick auf die Kathedrale erhascht, aber der ist dann...

 

In diesem Moment weiß ich ganz genau, warum dies ganz bestimmt NICHT mein letzter Camino war, warum ich immer wieder und immer wieder gerne durch Spanien trabe, warum ich Pilgern so liebe!

 

Ich schicke sofort allen meinen Männern eine Sprachnachricht ... und bekomme prompt und sofort eine von Linus zurück: "Heulsuse, Heulsuse!" - das ist mir so wertvoll, denn ich weiß, dass er weiß, wie sich das anfühlt, nicht vom Ankommen in Santiago, aber vom Ankommen in Finisterre, und ich weiß, er ist in diesem Moment ganz bei mir.

 

Von allen Caminos ist dieser Einlauf in Santiago der kürzeste und mit Abstand schönste!

Der Rest des Tages ist eine einzige Katastrofe: Selbstverständlich führt mich mein erster Weg ins Pilgerbüro und in Anbetracht der Warteschlange auch ganz schnell wieder von dort weg zum erstbesten freien Stuhl in der nächsten Bar. Rund um mich herum sind Pilgerinnen aus Deutschland, die gemeinsam den Portugues gegangen sind. Ich höre ihnen zu und könnte heulen ... ein bisschen vor Neid, weil sie ihren Camino miteinander geteilt haben und nicht tagelang vor Einsamkeit schier vergangen sind, ein bisschen, weil es so schön ist, endlich wieder Stimmen zu hören, die Worte sagen, die ich auch verstehe.

 

Später ist es ein bisschen weniger voll im Pilgerbüro und ich hole meine Compostela. Nein, ich habe mir noch null Gedanken gemacht, wo ich schlafen werde. Das Seminario Menor ist so groß, da bekomme ich vielleicht sogar noch eine Einzelzelle ... denke ich bis zu dem Moment, in dem ich vor dem riesigen Kloster stehe und "Completo" lese. Echt jetzt?

 

Alles nicht schlimm, denke ich, ich habe ja meine andere Lieblingsherberge ein bisschen außerhalb (Monterey heißt es; dort bleibe ich immer, wenn ich nach Santiago fliege und morgens einen Bus zu meinem Startort nehme, denn es ist ganz in der Nähe vom Busbahnhof und so komme ich erst beim Ankommen in die Stadt; so mag ich das am liebsten), rufe an und höre "Completo". Neee!

 

So, jetzt kriege ich die Panik und telefoniere nach und nach alle Herbergen und Hotels ab, ungeachtet der Lage und des Preises, und ergattere das letzte Bett im St. Lazarus (also mit dem Camino Frances wieder aus der Stadt hinaus bis dorthin, wo es zum Monte do Gozo (Completo) hinaufgeht - die von dort schon einmal ankamen, wissen, dass es bis dort rund 4 km sind; mal eben: Ich bin in Bandeira gestartet, das waren 34 km, dann ging ich zum Menor hinunter (Fluss) und hinauf, wieder nach Santiago zurück hinunter (Fluss) und hinauf und jetzt ...).

 

Denkt ihr gerade, ich soll nicht so doof jammern, sondern mir lieber einen Bus oder ein Taxi nehmen? - Jepp, guuute Idee, die hatte ich auch ... und scheiterete kläglich. Der Grund, warum Santiago komplett ausgebucht ist, ist ein Konzert auf dem Monte do Gozo. Der Bus dorthin kommt auch, macht aber nur hinten die Türe auf, damit eine verirrte Person (oder kriegte sie einfach keine Luft mehr?) herauspurzeln konnte; vorne sehe ich nur die plattgedrückten Nasen der Fahrgäste, die sich wahrscheinlich schon an der Starthaltestelle mit Ach und Krach in ihn hineinpressten. Keine Chance. Muss ich da noch etwas zum Thema Taxi sagen, oder könnt ihr euch denken, warum sich dieses Thema gar nicht erst so weit entwickeln kann, dass es sich in Luft auflöst?

 

Ich bin ehrlich gesagt fix und fertig. Ich habe seit dem Frühstück nur noch hier und da einen kleinen Bissen zwischendurch zwischen die Zähne geschoben (ich wollte mir ja den Appetit in Santiago nicht verderben), kaum etwas getrunken, ich bin panisch, weil wenn ich nicht rechtzeitig in die Herberge komme, ist mein Bett weg, es ist schon nach 20.00 Uhr, ich bin müde, meine Beine tun mir weh, ich kenne den Weg nicht (in diese Richtung sind Camino-Pfeile so nutzvoll wie ein Kropf, Windpocken und Hämorrhoiden auf Jungfernfahrt)  und Pipi muss ich auch mal. - Nein im Ernst: Ich überlege mir gerade, mich einfach totesmutig vor ein Auto zu werfen und den Fahrer mit einem größeren Geldbetrag dazu zu zwingen, mich in die Herberge zu fahren, da kommen von hinten zwei Englisch sprechende Jungs, haken mich links und rechts unter und schleppen mich, wir haben den gleichen Weg, zur Herberge. Ich könnte heulen, so dankbar bin ich ihnen! Neinneinnein, sie tragen mich nicht, das müssen sie auch gar nicht, denn so fertig ich auch bin: Die Blöße, die beiden DAS merken zu lassen, gebe ich mir nicht ... noch nicht. Aaaber sie sprechen mit mir Englisch und sie kennen den Weg ... auch wenn wir über eine halbe Stunde lang "nearly there" sind. Und mein Bett ist noch frei!

 

Den Jungs ist es ein bisschen unangenehm, noch vor mir von der Hospitalera "abgefertigt" zu werden, aber weil sie schon hier waren und nur noch irgendetwas klären müssen, geht das sehr schnell. In dieser Zeit aber betreten noch zwei Damen den Empfangsraum. Sie kommen auch noch vor mir dran. Nicht schlimm, denke ich, ich sitze ja und ich habe ein Bett und die zwei Minuten kann ich nun auch noch warten.

 

Aus diesen zwei Minuten wird jedoch über eine Stunde, in der sie palavern und palavern und überlegen und unzählige Male bis 47 zählen. Ich denke nur, dass ich ganz dringend noch eine Bar und etwas zu essen und zu trinken brauche ... dann höre ich auf zu denken, weil sonst müsste ich einsehen, dass ich mir das ja nun wohl abschminken kann.

 

Ehrlich gesagt habe ich eine echt besch...eidene Nacht. Der riesige Schlafsaal ist vollgepfropft mit mir unbekannten Menschen (die beiden Jungs schlafen in einem anderen Raum), ich habe ein Bett mitten im Raum, ich weiß nicht, wohin mit meiner Brille, und lege sie, damit sie nicht kaputt geht, in einen Spint, ich bin so fertig, dass ich keine Ruhe finde, um die anderen nicht zu stören, schleiche ich mich halbblind weil ohne Brille hinaus und heule vor mich hin. Vor mir auf dem Tisch steht eine Bierdose und ich könnte kotzen: Glaubt mir, wäre sie voll, ich würde sie hemmungslos leertrinken, zwei Euro oben drauf legen und am nächsten Morgen gucken, wer sie wegnimmt, damit ich mich bei ihm für diesen Mundraub entschuldigen kann.

 

Am nächsten Morgen sieht die Welt allerdings ein bisschen anders aus: Ein deutscher Pilger hat Kaffee, ein junges Mädel hat Kekse und gemeinsam päppeln sie mich, "du musst ja gestern einen Scheißtag gehabt haben, wir haben dich sitzen sehen" nicht nur körperlich wieder auf. Inzwischen trage ich auch wieder meine Brille und sehe, dass die Bierdose ganz neu und ungeöffnet ist! Das kommt davon, wenn man als Blindnickel keine Brille trägt!