Pineiro - Chantada

So unglaublich, wie der Tag gestern aufgehört hat, so unglaublich fängt der heutige Tag an: Ich bin weit weg vom Camino und ein bisschen unglücklich, weil ich nicht weiß,  wie ich zurückkommen soll. Beim Frühstück frage ich nach einem Taxi. Wohin ich denn gebracht werden möchte? Mir fällt der Ortsname gerade nicht ein, aber "por el pueblo de los gentes de ayer", also "dorthin, wo mich die Menschen gestern aufgelesen und mir so unglaublich lieb geholfen haben" in Kurzform reicht und der Wirt verschwindet mit der Bemerkung, ich solle einen Augenblick auf ihn warten. Es dauert auch wirklich nicht länger, da kommt er auch schon zurück: Ob es mir in einer halben Stunde passt? - Natürlich!

 

Ich esse schnell mein Frühstück auf, packe meine sieben Sachen (das Schöne am Pilgern ist, dass das packen nie lange dauert, weil man nie so viel dabei hat, dass es länger dauern könnte) und gehe zurück in den Wirtsraum, wo auch ganz gleich ein junger Mann hereinkommt, mich und meine Kiepe in sein ausgelatschertes Auto verfrachtet und mit mir davon zuckelt.

 

Vielleicht denkt jetzt der/die eine oder andere unter euch: Wie kann sie das denn machen? Die kann doch nicht einfach zu einem fremden Mann ins Auto steigen! - Ganz ehrlich? Ich bin jetzt nicht mehr so die Jüngste und Knackigste, war noch nie die Hübscheste oder auch nur annähernd mit einem sexy Körper gesegnet. Ganz im Gegenteil: Ich wirke eher fluchtwürdig als begehrenswert und hatte das große Glück, noch nie eines Schlechteren belehrt worden zu sein. Und ein bisschen Gottvertrauen gehört, glaube ich, eh dazu, wenn man alleine in der Weltgeschichte herumstiefelt. Ich hatte nur einmal wirklich Angst: Auf meinem Camino de San Salvador (findet ihr auch im Blog) machte ich mich ein bisschen aus Not gedrungen, ein bisschen aus Trotz (mein Mitpilger hatte mich einfach und ohne jede Vorankündigung an diesem Morgen im Stich gelassen) alleine auf den Weg über den höchsten Berg dieses Caminos und das bei ziemlich blödem Wetter. Unten war der Regen noch nur nass, oben weiß und so heftig, dass ich eine Markierung nur darum fand, weil ich ein bisschen verzweifelt, ein bisschen wütend meinen Rucksack von mir und just auf die Stelle warf, wo sich der gelbe Pfeil unter dem Schnee versteckte. Kennt ihr das, dass die Welt irgendwie wie in Watte gepackt ist, wenn es schneit? Das ist an sich schon ein bisschen ein komisches Gefühl, weil alles irgendwie wie gedämpft ist. So, dann nehmt dieses Gefühl, packt dazu die Erkenntnis, dass es hier weder Telefon- noch Internetempfang gibt, dass ihr alleine seid und ... habt ihr eben das Geräusch gehört? Ich hatte gelesen, dass es hier Wölfe und Bären geben soll! - Jepp, DA hatte ich Angst, aber sonst ehrlich gesagt nie, noch nicht einmal auch nur ein halbwegs unangenehmes Gefühl.

 

Laach! Das lasse ich hier mal genau im Originaltext stehen, damit ihr einen Begriff davon kriegt, was dabei herauskommt, wenn ich unterwegs in mein Handy tippe. Nicht nur, dass meine Wurstfinger einfach zu dick sind für die Tastatur, die automatische Korrektur macht die Sache auch nicht besser und hat übrigens auch Begriffe wie "Camino Inferno" und "Schweinehund mit Wirsing" geprägt:

"Ein junger Mann fuhr mich wieder just dahin zurück, wo ich den Casino gestern auf der Asche nach einem Bett verlassen hatte und als ich ihm einen Betrag geben will, den ich für angemessen hslte, diskutieren wir so lange, bis wir beide mit fifty-fifty zumindest halb nach unserer jeweiligen Absicht aus der Situation herauskommen. Aber ich glsube, in diesem Moment ergab zweimal halb nicht nur für mich einmal doppelt."

 

Nein,  mehr als doppelt, denn obendrauf setzte der Camino ein Sahnehäubchen aus wunderschönen Corredoiras, die ich heute auch wieder so ganz und gar genießen kann! Ich liebe diese alten Ochsenkarrenwege! Sie schneiden manchmal gaaanz tief in die Erde, führen durch mit Trockenmauern abgegrenzte Wiesen und Weiden oder knurzelige Steineichenwälder und ich habe immer das Gefühl, dass ich von Waldschraten, Elfen und Trollen umgeben bin. Galicien heißt auch "terra meiga", das verhexte Land - auf Corredoiras bekommt man eine ziemlich genaue Vorstellung davon, warum das so ist.

 

Kurz vor Diomondi an einer Bushaltestelle wartet er dann endlich auf mich, der

 

100-km-Stein!

 

Dabei haben die letzten 100 km für mich immer etwas ... Zwiespältiges: Ich freue mich darauf anzukommen, bin stolz auf mich, freue mich auf Santiago de Compostela und darauf, dass MEIN Bett, MEINE Toilette und MEINE Dusche in greifbare Nähe rücken, andererseits mag ich mich von Schritt zu Schritt weniger von einem Camino trennen, möchte nicht, dass er zu Ende geht.

 

Aber weil das Ankommen ja nun doch immerhin noch 100 km entfernt ist und ich weiß, dass es gleich ein paar Schritte weiter eine wunderschöne Kirche gibt, stelle ich meinen Rucksack ab und gehe gucken - übrigens ein Tipp, den ich jedem, der den Camino de Invierno ganz heiß ans Herz lege:

 

 

Schaut euch unbedingt das Monasterio de San Pelayo an! Es ist halsknödelig schön!

 

Vielleicht wundert ihr euch gerade über den Zentaur auf dem Kapitell ganz rechts. So ging es mir auch und dann habe ich daheim recherchiert und fand eine sehr spannende Erklärung, die ich euch hier einfach als Ausschnitt aus meinem Bauchfüßler hineinkopiere:

 

 

    Griechischen Mythologie an und in Kirchen                      

 

      Freilich verbinden wir die Chimären (Mischwesen) der griechischen Mythologie nicht unbedingt mit dem christlichen Glauben, allerdings wurden sie im Mittelalter oft zur Darstellung der sieben Todsünden (Hochmut, Geiz, Neid, Zorn, Wollust, Völlerei und Faulheit) genutzt. So steht der Zentaur, halb Pferd, halb Mann, für Brutalität, Wollust und Wildheit, die Harpyie, ein Frauenkopf auf einem Vogelkörper (eine von ihnen, Podarge, die Schnellfüßige, war die Mutter der Pferde von Achilles (ihr wisst schon, der mit der Ferse)), für Gier und Verführung, der Gryphon, ein bisschen Adler, ein bisschen Löwe, für Geiz und Gier und Sirenen, halb Frau halb Vogel oder Fisch, führten auch im christli­chen Glauben mit ihrem einlullenden Gesang in Versuchung.

 

 

Jetzt ist mir auch klar, dass die Meerjungfrauen, die ich schon ganz oft gerade in Spanien in Wappen gesehen habe, gar keine Meerjungfrauen sind, sondern Sirenen! Man lernt eben nie aus!

 

Als es ein gutes Stück weiter bergab geht, merke ich schon an der Anordnung der Steine, dass ich hier auf sehr altem Pflaster lustwandele. Mehr noch: Man geht davon aus, dass hier schon die Kelten herumlatschten. Unter den Römern wurde er dann zu einem Stück ihrer Straße Nr. XVIII und später kamen dann die Pilger. Mir machen solche Wegabschnitte immer ein ganz krusseliges Gefühl im Bauch. Freilich weiß mein Kopf, dass es Menschen schon ganz lange gibt, aber nirgendwo sonst wird dieses Wissen für mich so fühl- und greifbar. Auch in Museen nicht. Die sind zwar schön, lassen aber "menschliche Geschichte" einfach als interessanten aber abstrakten Begriff im Raum stehen. Auf solchen Wegen ist das für mich einfach anders, wisst ihr, was ich meine? Kennt ihr das, wenn man sich fragt, wer hier schon alles warum und mit welchen Gefühlen, Hoffnungen, Ängsten, Sehnsüchten, Problemen oder auch Freuden gegangen sein mag?

 

 

 

Am Ende öffnet sich der Blick zu dieser Aussicht:

 

Na, wie gefällt euch das? Ist das nicht wunderschön? ... Also zumindest von oben betrachtet?

 

Von unten betrachtet, sieht das allerdings ganz anders aus. Seht ihr, wie der Fahrweg sich am Hang hinauf windet? Die gelben Pfeile sind allerdings ein bisschen eigensinnig und nehmen den kürzeren Weg geradeaus senkrecht hinauf und kreuzen ihn nur von Zeit zu Zeit. Ach, ihr schwitzt davon beim Lesen? - Ha!, fragt nicht nach Sonnenschein!

 

Apropos Sonnenschein: Ich finde unten just auf der anderen Seite der Brücke ein nettes Ruheplätzchen, lege mich in die Sonne und beschließe, dem Buckel erst einmal mit einem kleinen Päuschen die kalte Schulter zu zeigen. Und guckt, wer da angetrabt kommt: Als erstes kommt das spanische Pärchen aus A Pobra, gucken sich kurz um, greifen zu ihrem Telefon und rufen sich ein Taxi. Ich muss schon ein bisschen grinsen, denn so wirklich pilgererfahren scheinen die beiden mit ihren schweren Armee-Jacken und Jeans auch wirklich nicht zu sein.

 

Als nächstes kommen die drei spanischen Jungs. Huch? Hallo! Die hatten doch auch in Barxa übernachtet und sollten entsprechend mindestens eine halbe Tagesetappe hinter mir sein! Sie umgekehrt schauen mich genauso ungläubig an, freuen sich aber wirklich, mich zu sehen. Ich mich auch! Mit ihnen kommt wieder so ein kleines Gefühl von Heimeligkeit. Ja, die amerikanische Pilgerin habe auch in Barxa übernachtet und dann hätten sie sie verloren und wüssten jetzt auch nicht, wo sie steckt. Schade. Aber so ist Pilgern eben: Man trifft sich, man verbringt Zeit miteinander, man freut sich, wenn man sich wieder begegnet, aber am Ende ist es immer der Camino von jedem einzelnen und jeder einzelne geht ihn anders und jeder einzelne geht ihn für sich und so, wie er es mag.

 

Ich lasse denn mal alle ihrer Wege ziehen, beiße die Zähne zusammen und schultere schließlich auch meinen Rucksack wieder. Der Tag gestern steckt mir ziemlich in den Knochen und ganz ehrlich?: Am liebsten wäre ich mit ins Taxi gestiegen. Die beiden haben mich zweimal gefragt, ob ich nicht mitkommen möchte, und ich bin froh, dass sie es nicht ein drittes Mal getan haben, denn da hätte ich wahrscheinlich nicht mehr dankend abgelehnt. Es dauert auch keine fünf Minuten, dass ich das bereue. Aber jetzt ist es, wie es ist: Augen zu und durch.

 

Als ich in Chantada ankomme, mache ich drei Kreuze. Es ist eine der wenigen größeren Städte dieses Caminos, und ich bin ... enttäuscht. Irgendwie ist das ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Häuser der Hauptstraße der Altstadt sind fast alle leer und zu einem großen Teil verlassen, während sich das ganze Geschäfts- und ein Großteill des Gaststättenlebens ein bisschen weiter rechts an der heutigen Hauptstraße abspielt. Das ist so schade! Es sind so schöne Gebäude, alt-hochherrschaftlich mit Galerías, die allerdings leider oft nur aus Scherben bestehen. Dafür speist man jetzt direkt neben dem Durchgangsverkehr.  Hm.

 

Ziemlich zentral gibt es eine sehr billige Unterkunft. Was soll ich sagen? - Der Komfort des Zimmers ist an den Preis (12,--) angepasst. Als ich die Türe des einzigen Etagenbades nur mit viel Panik schließlich doch glücklicherweise noch öffnen kann (ich dachte schon, ich müsse es mir in der Sitzwanne bequem machen und warten, bis mich jemand findet), bin ich froh,der einzige Gast zu sein, und lasse künftig die Türe vorsichtshalber offen.

 

Aber die Senora gibt mir sofort eine  weitere Decke und das Bett hat eine Matratze, aus der man sich nicht wie auf einem Klettersteig herauskraxeln muss. Viel mehr brauche ich auch heute nicht.